Magie


„Höre gut zu, Angus, denn ich erläutere ungern zwiefach, was der aufmerksame Eleve in einem Anlauf zu fassen vermag. Dies nun soll das Fundament sein, auf das fürderhin sämtliche Lektionen errichtet werden sollen.

Das Leben selbst, in all seinen mannigfachen Spielarten, ist nur ein Fragment, nein, eine Facette, des ewigen Kreislaufs der Magie. Alles Sein wurzelt im rohen Chaos, und alles Nichtsein geht darin auf. Jedes Aufbäumen von Leben, jeder Sonnenstrahl, jeder Atemzug, jeder Regentropfen, war einst Chaos. Das Chaos ist pures Potential, es ist nichts, und vermag alles zu sein. Doch ohne die Prinzipien von Leben und Tod würde es ad infinitum nichts bleiben, und ewig ungestalt.

Das Prinzip des Lebens formt das Potential zu Aktualität. Jede Kontingenz, derer du in Thrimor ansichtig wirst, wurde durch das Prinzip des Lebens in verschiedenem Maße in eine der vier Kräfte geformt, die wir kennen; welche da sind: die Form der Energie und rohen Kraft, welche ihre radikale Manifestation im Element Feuer zeigt; die Form der Festkörperlichkeit und Starre, in ihrer radikalen Manifestation das Element Fels und Stein; die Form der fluiden Nichtgestalt, die fest ist und doch nicht, Wasser in seiner radikalen Manifestation; und letztlich die Form des flüchtigen Äthers, dessen radikale Manifestation die Luft ist. Doch bedenke stets dies, junger Angus, dass das Leben keine Kraft und keine Form ist, lediglich ein Prinzip, nach welchem sich die Kräfte formen, gleich der Kraft der Erde, die dich stets zu Boden zieht, ohne dich je mit fleischlicher Hand zu fassen, oder der Kraft des Willens, die dich stets antreibt, ob deinen Leib zu triumphieren.

Nun treten die Kräfte mitnichten stets in ihrer radikalen, reinen Manifestation auf. Selbst der festeste Stoff, Tharuler Stahl, enthält in seiner Form fluides Potential, das der kundige Schmied durch das rechte Beimengen von Energie zu wecken und dadurch die Schwerter zu formen vermag, welche unser Land und unser Volk schützen. Und auch du selbst, junger Eleve, trägst in dir Odem und Fleisch und Blut und Wärme und bist so eine Symphonie der Kräfte des Lebens, die dich geformt.

Nun gibt es Toren in Thrimor, die das Prinzip des Lebens als Götzen verehren, gleichsam einem, der nicht sein Weibe liebt, welches in Gestalt vor ihm steht, sondern stattdessen den Prozess ihrer Geburt. Die Narretei heißt man den Kult Eluviels. Noch weiter fehlen aber jene, die seinen Widerpart zum Götzen erhoben haben, und ihn Lorem heißen.

Dem Prinzip des Lebens nämlich steht das Prinzip des Todes gegenüber. Alles Potential strebt danach, in seinen Urzustand zurück zu gehen. Und nicht mehr lange, nun, nicht mehr lange, dann werden die Kräfte der vier Elemente aus meinem Leibe wieder weichen, und meine Energie wird Chaos und Brodem, und Potential für deine Zauberkraft. Denn zaubern, das heißt nicht mehr und nicht weniger als den Fluss des Lebens zu verstehen, und die Kräfte des Chaos zu formen, gleich einem Tischler, der das Holz nicht schlichtweg hinnimmt, in der Form, da es die Natur geschaffen, sondern der kunstfertig und geflissentlich den Stoff formt, bis er die Gestalt annimmt, die dem Tischler beliebt.“

Meister Kobe, Großmagier der Cantharischen Akademie der magischen Künste

Vom Wesen der Magie

Jegliche Magie in Thrimor beruht auf Verbindungen zu den vier magischen Ebenen. „Ebene“ ist dafür allerdings ein wenig treffender Hilfsbegriff, der in einer Zeit entstanden ist, als man das Wesen der Zauberei kaum verstanden hat. Als moderner Mensch kann man sich diese Ebenen mehr wie die Frequenz eines Senders vorstellen denn als konkreten Ort. Wenn man die richtige „Frequenz“ eingestellt hat, „empfängt“ man die richtige Ebene: Feuer, Wasser, Erde oder Luft.

Magische Wesen und magiebegabte Menschen haben gelernt, diese Energien in die physische Welt überzuleiten. Es wird eine Verbindung, eine Art Brücke geschlagen, die man – in Anlehnung an die Metapher der Ebene – als Riss in dem Schleier zwischen den Welten bezeichnet. Menschen interagieren über magische Wörter und Sprüche mit dem Schleier, von Natur aus magische Lebensformen haben für gewöhnlich eine enge angeborene Bindung zu einer der Ebenen und können ohne Sprüche oder Gesten Verbindungen zu dieser herstellen, allerdings nur zu dieser.

Werden die Öffnungen – egal welcher Größe – zu den Ebenen nicht wieder geschlossen, strömt durch diese ungehindert weiterhin Magie in die Welt. Besondere magische Phänomene wie der Farunwald könnten sich auf diese Weise erklären, ebenso die Existenz von Feenwesen und Kobolden, aber auch gefährlichere und ungewöhnlichere Wesenheiten und Ereignisse in Thrimor könnten in diesem Phänomen ihren Ursprung haben. Während magische Wesen die Verbindung zu ihren Ebenen ebenso natürlich wieder schließen können, wie sie sie öffnen, benötigen Menschen dafür sogenannte Norikelsteine. Diese in Ritualen hergestellten Steine sind passiv-magisch und können diese Risse wieder verschließen, indem sie die magischen Strukturen des Schleiers wieder verwischen oder verweben. Die Steine werden dadurch nicht verbraucht, aber größere Risse brauchen auch größere Steine.

Magiebegabte in Thrimor

Trotz aller Bemühungen, dem Volk Bildung und ein grundlegendes Ausmaß an Einsicht über das Wesen der Magie zukommen zu lassen, gibt es noch immer Zauberer, die ohne Vorbildung oder gesetzlichen Rückhalt durch den Grafen Magie anwenden. Doch lasst uns erst über die wichtigste und am weitesten verbreitete magische Zunft sprechen: die Canthari.

Auf der Akademie der magischen Künste lernen junge Schülerinnen und Schüler, die Energien der vier Ebenen durch Spruchformen und magische Gesten zu beeinflussen. Das Studium ist allerdings eine große Herausforderung: Mit der bloßen Kenntnis von etwas Theorie und ein paar Formeln ist es weit nicht getan. Ein richtiger Magier muss das Wesen der Magie verstanden haben, sich im Fluss des geformten Chaos versenken und dabei stets sich selbst im Auge behalten können. Zum Lehrplan gehört Mathematik ebenso wie Kontemplation, Folianthen so sehr wie Meditationsübungen. Außerdem lernen sie dort, verantwortungsvoll mit Magie und mit den Rissen, die sie schaffen, umzugehen. Dies ist auch der Grund, warum die Canthari die Einzigen in Thrimor sind, die Magie nutzen dürfen (und auch die natürlich nicht uneingeschränkt).

Trotzdem entgeht vielen die Möglichkeit, an der Schule zu lernen. Da etwa jeder Zwanzigste oder Dreißigste von Natur aus magiebegabt ist, durchkämmen jedes Jahr Canthari die Dörfer, und bringen Menschen, die für sich oder andere eine Gefahr sein könnten, an die Akademie. In entlegenen Winkeln gibt es aber immer wieder welche, die nicht gefunden werden können. Diese werden dann häufig zu Druiden, den Priestern der Uralten Götter, die mit der Macht der Natur und ihrer Elemente ihre Ziele – welche immer das sein mögen! – verfolgen. Über sie ist noch weniger bekannt als über die Vertreter des Hexentums. Fast ein jedes Dorf hat ein Kräuterweib oder einen weisen Alten am Rand der Siedlung. Diese Hexer und Hexen verfügen über altes Wissen über Kräuterkunde, Heilkunst und Magie. Ihre Werte und Fertigkeiten geben sie mündlich an ihre Schülerinnen und Schüler, nicht selten die eigenen Kinder, weiter. Organisiert wie die Canthari sind sie nicht, aber man sagt, sie würden einmal im Jahr ein wildes Fest feiern. Da diese schrulligen Figuren kaum eine Bedrohung darstellen, Norikelsteine auch in ihrer Tradition vorkommen, und die Dörfler sie oft mit Zähnen und Klauen verteidigen, sieht der Cantharische Orden in der Regel davon ab, sie für ihre unerlaubte Magieanwendung zur Rechenschaft zu ziehen – es sei denn, ihre Magie richtet Schaden an.

Weitere wichtige Anwender von Magie sind das Gefolge von Shabbar, die eine besondere Nähe zum Element Feuer haben, und die Elfen, die einen sehr natürlichen Zugang zur Zauberei haben. Eine besondere Form der Magie haben die Gnome erforscht. Obgleich von Natur aus unempfänglich für die Ströme der Magie, haben sie gelernt, magische Metalle so zu bearbeiten, dass der Fluss der Magie sich an ihnen formt, gleich einem Kanal, der Wasser leitet. Durch diese sogenannten Glyphen können sie magische Effekte bewirken.

Letztlich nicht unerwähnt soll bleiben, dass grundsätzlich jeder Mensch Magie erlernen kann. Manche sind talentierter, manche weniger. Die einen müssen jahrelang studieren, bei den anderen bricht sich Magie ganz von selber Bahn. Wenn jemand so einen intuitiven Zugang zur Magie gefunden hat, aber nicht geschult worden ist, kann er zu einer großen Gefahr werden, weil er mit jedem Spruch einen weiteren Riss in den Schleier reißt, und mehr fremde Energie in diese Welt gelangt.

Insgesamt gibt es drei „Stufen“ an Magiebegabtheit, die in Thrimor erlaubt sind:

  1. Cantharische Magier: Jeder, der die volle Ausbildung zum Canthari genossen hat, darf im Rahmen des Rechts zaubern. Sie müssen das Symbol der Canthari auf ihrer Stirn tragen.
  2. Hage: Nicht alle haben das nötige Kleingeld, die nötige Intelligenz und die nötige Freizeit, um die volle Laufbahn zu durchgehen. Trotzdem werden sie – unentgeltlich – an der Akademie geschult, um zu lernen, wie man Norikelsteine einsetzt. Hage dienen oft als Heiler in der Garde, ziehen als Wahrsager durch die Welt oder verstärken ihre Waffen durch Magie, sind aber keine potenten Zauberer. Jedenfalls ist ihnen gefährliche Magie wie Kampf- oder Beherrschungsmagie grundsätzlich verboten. Sie erhalten ein Dokument, das sie als Hag ausweist – wirken sie Magie ohne es dabei zu haben, können sie verurteilt werden.
  3. Bürgschaften: Ein Canthari kann in einer Notsituation einen Fremden unterweisen und ihm auf begrenzte Zeit eine Bürgschaft ausstellen. Das erlaubt dem Fremden, Magie zu wirken – für jeglichen Schaden, den er dabei wissentlich oder unwissentlich anrichtet, steht aber der Bürge gerade. Deswegen übernehmen nur sehr selten Magier Bürgschaften für Fremde. In jedem Fall sollte der Fremde so bald wie möglich die Akademie aufsuchen und sich schulen lassen.